Dienstag, 23. Januar 2024

Rotkehlchen

Wege am Morgen

Etwas rollt - rennt - rollt - Blatt? Maus?
Blatt. Ach ja. Und Maus!
Henkelschwänzig verschwindet sie hinter dem Sicherungskasten.
Zwischen den Blättern fliegt ein Rotkehlchen auf. Landet knapp armweit vor mir.
Sieht mich an. Was ich ihm wohl bin? Wandernder Baum? Rinde insektenlos. Uninteressant.
Es zwitschermurmelt ein paar Vogelsilben. Ich antworte unbeholfen murmelzwitschernd.
So geht das eine Weile. Gespräche zwischen Spezies.


Wir teilen uns ein Habitat.

 

 

23.1.24

Sonntag, 31. Dezember 2023

wir leben in unruhigen zeiten II

 

wir leben in unruhigen zeiten

 wie leben in unruhigen zeiten.

was nicht verbrennt

wird davon geschwemmt von stetig steigenden flüssen,  endlosem regen,

der die dämme aufweicht und sich in die städte ergießt.


wir leben in unruhigen zeiten.

wer nicht verhungert, verdurstet, ertrinkt

vor der festung europa, 

die selber im inneren brennt,

bleibt auf jahre gestrandet in zelten

ohne aussicht auf zuflucht und frieden

- und die nationalisten geifern schon wieder gegen jeden, der schutz sucht.

 

wir leben in unruhigen zeiten.

so wenig wespen war'n nie

und die mauersegler flohen den nasskalten juli.

jeden schmetterling, der nicht kohlweissling war,

begrüßte ich freudig,

auch den nachtfalter am morgen, der in der beuge der jacke schlief.


wir leben in unruhigen zeiten.

die freunde, deren haut dunkler ist und deren name kein müller, schmitt oder heinz,

egal, ob sie zwischen den gleichen mauern geboren und leben wie ich,

diese freunde haben den koffer gepackt,

jenen kleinen, neben der wohnungstür, 

mit den geburtsurkunden der kinder, fotos der eltern, medikamenten, pässen und bargeld, mit

adressen von freunden, verwandten und liebsten in sicheren ländern.

unser land ist ihnen nicht länger heimat.


wir leben in unruhigen zeiten.

noch brauche ich keinen koffer,

noch schützen mich name und haut,

noch denke ich unbesorgt laut

wo andere fürchten um leib oder leben, um freiheit.


wir leben in unruhigen zeiten,

teilen die kriege in gute und schlechte ein

gestehen den einen opfern den schmerz zu,

den wir den andern verwehren,

und vergessen darüber die menschlichkeit.


wir leben in unruhigen zeiten.

draussen rüsten die böllerschießer sich zum empfang eines neuen jahres

und ich fürchte

ich fürchte

ich fürchte

es wird keinen deut besser sein als das verflossene.


aber ich hoffe

ich hoffe

ich hoffe

auf ein ende der kriege, des hungers, des leids,

schritt für schritt auf zuhören, verstehen, respekt und versöhnung.

auf ein besseres jahr.

 

lasst euch umarmen.

Sonntag, 19. November 2023

auf der wirbelsäule der erde

Ich setze Schritt vor Schritt.

Schritt für Schritt gehe ich

auf den Knochen Trillionen Toter unter mir.

Alles unter meinem Fuß ist Humus aus Verstorbenem.

Mensch, Pflanze, Tier. Sogar Berg.

Setze Fuß vor Fuß, spüre

unter nackten Sohlen das Raunen rückwärtsgeschauter Unendlichkeit.

Nicht fassbar,

denn, stell Dir vor, alles ist, weil anderes zuvor vergangen ist.

Boden aus Ozean,

gefaltet, geschüttelt, vereist und wieder gefaltet zum Berg.

Ich ein Wimpernschlag

zwischen Zeitaltern vor und derer nach mir.

Jünger als jede versteinte Koralle

setze ich Schritt vor Schritt.

Schritt für Schritt gehe ich

auf Schotter, blindem Asphalt,

Kies, vergiftetem Boden,

nass schmatzendem Sand,

Lehm stäubend puderzart;

setze behutsam den Fuß zwischen Zerscherbtem

treppwärts im Rippenkäfig,

rutschend, schlingernd zwischen Schlamm und Geröll,

umgeben von Blut, Rauch und Geschrei.

Eingehüllt in Nebel, Schwefeldampf,

setze ich Schritt vor Schritt.

Schritt für Schritt gehe ich

bis der Kopf Wolken trinkt

in Gipfelklarheit und Kälte,

im Raunen der Geister und Ahnen

unter dem Sirren der Sterne.

Eine Wimper im Sturm bin ich nur.

Schritt vor Schritt

schon im nächsten Blick unsichtbar

gehe ich

auf der Wirbelsäule der Erde.  

 

Welch ein tröstliches Bild. 




© 19.11.23


Der Himmel ist ein großes Tier

Der Himmel ist ein schlafend' Tier

mit einem großen Atem.

Stemm Dich nicht ihm entgegen!

Wirf Dich in seinen Traum

dass Dich sein Atmen trage

den Vögeln gleich

und über dieser Welt. 

 

 


November 23

wir leben in unruhigen zeiten

 wie leben in unruhigen zeiten.

was nicht verbrennt

wird davon geschwemmt von tobenden flüssen, sturzregen.

wer nicht verhungert, verdurstet, ertrinkt

vor der festung europa, 

die selber im inneren brennt,

bleibt auf jahre gestrandet in zelten

ohne aussicht auf zuflucht und frieden

- und die nationalisten geifern schon wieder gegen jeden, der schutz sucht,

träumen von deportationen und reichskristallnächten II.

wir leben in unruhigen zeiten.

so wenig wespen war'n nie

und die mauersegler flohen den nasskalten juli.

jeden schmetterling, der nicht kohlweissling war,

begrüßte ich freudig,

auch den nachtfalter am morgen, der in der beuge der jacke schlief.

wir leben in unruhigen zeiten.

die freund:innen, deren haut dunkler ist und deren name kein müller, schmitt oder heinz,

egal, ob sie zwischen den gleichen mauern geboren und leben wie ich,

diese freund:innen haben den koffer gepackt,

jenen kleinen, neben der wohnungstür, 

mit den geburtsurkunden der kinder, fotos der eltern, medikamenten, pässen und bargeld.

mit adressen von freunden, verwandten und liebsten in sicheren ländern.

unser land ist ihnen nicht länger heimat.

wir leben in unruhigen zeiten.

noch brauche ich keinen koffer,

noch schützen mich name und haut,

noch denke ich unbesorgt laut

wo andere fürchten um leib oder leben, um freiheit.

wir leben in unruhigen zeiten,

teilen die kriege in gute und schlechte ein

und vergessen darüber die menschlichkeit.

wer ficht die kriege gegen unterernährung und wassernot? 

gegen die knebel aus saatgut+dünger+gift,

das die schädlinge in resistenzen, 

die menschen in hunger und die bauern in selbstmorde treibt?

wir leben in unruhigen zeiten,

wo der ewige frost aufhört ewig zu sein

und methanblowouts, schlammlawinen und milzbrand

vorgeschmack auf eine von vielen apokalypsen entbieten;

wo rottende, rostende gift- und atomfracht in meeren

sich anschickt, schleichend alles zu töten.

wir brauchen die reiter der apokalypse nicht.

wir töten uns selbst. 

 

© eva becker, 19.11.23

Samstag, 23. September 2023

gesammeltes

 am freitagnachmittag von der arbeit wegfahren. nein, nicht heim. mit dem rad über die kaiserbrücke, im kasteler feld herummäandern bis zur ochsenquelle, eine weile auf einer bank lesen und schlafen unter wolken und dem blätterdach dreier platanengöttinen. wieder wach in der sonne den steifen rücken wärmen, hernach klares kaltes quellwasser mit der hand zwischen den wasserläufern schöpfen und weiterrollen. die anspannung der woche loswerden. feldwege, gärten, neubaugebiete, kleine hohlwege. sonne trinken. aus der überfülle von hagebutten und weissdornbeeren schalen füllen, brombeerblätter sammeln (autsch sind die pieksig hinten)

 

am abend erfrischt, mit wachen sonnenaugen, blättermund und sprudelnder ruhe

heimkommen.

 

die alchemie geht weiter.

oxymel eins, mit thymian, salbei, oregano, kapuzinerkresse, ingwer, honig, apfelessig abfiltern, verkorken. boh, der salbei knallt.  hustenoxymel.

oxymel zwei mit weissdornbeeren ansetzen. herzstärkend.


hagebuttenoxymel. immunbooster, vitamin c.

 

die schiere notwendigkeit, angesichts tagundnachtgleiche und den dem dunkel zuwachsenden tagen, licht zu tanken, zu schlürfen, schlucken, aufsammeln, im herz bewahren, im inneren auge, im herzfeuer, im ich. 

nach dem reichsbürgerfahnenirrsinn im kleingartenvorstandsgarten diesen sommer, angesichts  einer unsäglichen partei, der allzuviele menschen sagbarkeit unerträglicher sachen antragen, angesichts nicht endender kriege, hungernder menschen am horn von afrika, jemen, burkina faso, afghanistan, sie können die liste beliebig fortsetzen, protestierender frauen in iran, denen mord, folter, vergewaltigung tagtäglich angetan wird (und den männern ebenso), angesichts erdbeben, dürre, überflutungen, einer bundesregierung, die die klimaziele krachend verfehlt und blöd rumlaviert,  bin ich dankbar für das licht, jeden morgen das licht und versuche es weiterzutragen.

bitte spenden sie an: ärzte ohne grenzen, tuisa hilft, oxfam, maldusa.org, proasyl, wer auch immer hilfe bringt, verteilt. sie können die liste gerne ergänzen.

bleiben sie wachsam, deutschland hat es laut amnesty international auf die unrühmliche liste steigender repression gebracht durch repressive gesetze, polizeigewalt und versammlungsverbote.

halten sie unsere demokratie nicht für selbstverständlich und einen sommer, der sie mit dürre oder überschwemmung verschont hat, ebensowenig. der klimawandel verbrennt uns den arsch oder lässt uns absaufen.we have no planet b.

bleiben sie freundlich, küssen sie ihre lieben, (oder rufen sie wenigestens an), pflegen sie ihre freundschaften (ich weiss, die to do listen sind lang, legen sie sie mal weg bitte)  denken und handeln sie demokratieschützend. fängt im quartier an. 

lesen: die schönheit der differenz von hadija haruna-oelker (war eine schöne lesung in mainz!)

alle zeit von tessa bücker (kommt im november nach mainz!)

podcast hören: im aufzug mit raul krauthausen und tadzio müller

trauer und turnschuh mit haruna hadija-oelker und max czollek

daniela sepehri und gilda sahebi zu iran 




Samstag, 22. Juli 2023

Im Sand

Im Sand *

Durch das Tor tretend,
das den lichten Wald vom Dünenfeld trennt,
durch die grau verwitterte Grenze
aus mächtigem Totholz,

sehe ich
gegenüber, dort, wo die Dünenlandschaft sachte ansteigt,
meinen Weg.

Schmal ist er, eng,
fußbreit höchstens.
Rechts und links
zweigen Furchen ab, Rillen.
Beginnend mit einer winzigen Welle
laufen sie links und rechts
gleichmäßig aus
in magere Grasrippenbögen.

Angelangt
ziehe ich meine Schuhe aus.
Setze Fuß vor Fuß
Schritt für Schritt
in den Sand.
Gehe
Ballen zu Ferse zu Ballen
behutsam
auf dieser Wirbelsäule
der Erde.

Spüre Sand
glatten Stein
Wärme
trockenes Erdreich
in Kuhlen gespeicherte Kühle
Regen vom Vortag.

Ein Stein ragt heraus
halbrund, spitzig am Ende.

Wirbelknochen.

So trage ich ihn in der Tasche.
Erinnerung
an meinen Gang
Fuß vor Fuß
auf der Wirbelsäule der Erde.


19. Juli 2023


* Mainzer Sand, Naturschutzgebiet mit Binnendünen und Steppenvegetation